Oft wird meine Angewohnheit belächelt, Zeitungen nach dem Weihnachtsbuchgeschenk-Prinzip zu lesen: Erst mal beiseite legen und irgendwann drin schmökern. Manchmal hat diese Marotte aber auch ihre guten Seiten. So konnte sich die Fassungslosigkeit über das 4:4 der deutschen Nationalelf gegen Schweden langsam legen und einer distanzierten Betrachtungsweise weichen. Diesen Vorteil hat Nik Afanasjew offensichtlich nicht genutzt, behauptet er doch im Tagesspiegel vom Freitag, den 19.10. über Jogi Löw: „Seine Zeit als Cheftrainer ist abgelaufen.“
Immerhin hatte auch Herr Afanasjew ein bis zwei Tage Zeit, über seinen Artikel nachzusinnen, so dass nicht der gesamte Unsinn, den er schreibt, dem noch zeitnahen Eindruck der Vorkommnisse vom Dienstagabend im Olympiastadion geschuldet sein kann. Neben vielem anderen wirft Afanasjew Löw hauptsächlich die Titellosigkeit bei drei (mit 2006 vier) großen Turnieren vor, wofür eine „Atmosphäre der harmlosen Harmonie“ innerhalb der Mannschaft verantwortlich sei (leider geht`s bei uns nicht zu wie bei den Franzosen!). Nicht individuelle Fehler einzelner (Abwehr-) Spieler sondern die „schleichende Breisgauisierung der Nationalelf“ sei dafür verantwortlich, dass seit 1996 kein EM- oder WM-Titel mehr nach Deutschland geholt wurde. Gibt es in England eigentlich auch einen Breisgau, der für die 56-jährige Erfolglosigkeit des Nationalteams verantwortlich ist? Und herrscht in der Holländischen Elf zwischen blassen und dunklen Spielern zuviel Harmonie oder wie sonst ist deren Freiheit von großen Triumphen seit nunmehr 24 Jahren zu erklären?
Mit welcher penetranten Arroganz muss man eigentlich ausgestattet sein, um vor jedem Turnier Titel zu fordern? Können die anderen eigentlich nicht Fußball spielen? Gibt es einen Völkerrechtsparagrafen, nach dem jeder zweite Titel an Deutschland zu gehen hat? Bei den letzten vier Turnieren jeweils im Halbfinale gewesen zu sein (was nicht mal die Spanier geschafft haben): ist das kein Erfolg?
Titel bei einem Turnier kann man nicht planen; und schon Sepp Herberger erklärte uns, dass die Menschen nur deshalb zum Fußball gehen, weil sie das Ergebnis vorher nicht kennen.
Wenngleich man natürlich über die eine oder andere Aufstellung oder nicht erfolgte Einwechslung diskutieren kann – wir sind ja alle Bundestrainer – ist Herr Löw der letzte, dem man verpasste Titel vorwerfen kann.
Dass Afanasjew den Wechsel von Sammer zu Bayern als „Gleichschaltung der Nationalelf-Führungsebene“ sieht und allen Ernstes Jupp Heynckes, der besonders in den beiden letzten Jahren von Titeln förmlich erschlagen wurde, als Nachfolger von Löw vorschlägt, deutet allerdings darauf hin, dass es sich bei dem Artikel um eine genial konstruierte Satire handelt, deren Aussage ich nur nicht verstanden habe.
Klaus Becker