Das war nicht unbedingt zu erwarten: Nach dem erschreckenden Leistungsabstand zum Spitzenreiter St. Pauli gewinnt Hertha in Gelsenkirchen und kommt nur in der letzten Viertelstunde unter Druck. Jetzt könnte man mit Blick auf die angeblich nie lügende Tabelle sagen, dass es sich um einen Auswärtssieg bei einem potentiellen Absteiger handelt, also eigentlich für ein ambitioniertes Team eine Selbstverständlichkeit. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Denn erstens hat Hertha beim Lieblingsgegner Gelsenkirchen, dessen Vereinsname in Anhängerkreisen seit Jahrzehnten tabu ist (eine absolut kindische Angewohnheit, die aber, auch in diesen Texten, mit großer Ernsthaftigkeit betrieben wird) schon viel zu oft verloren (31 Gelsenkirchener Siegen stehen 9 Unentschieden und 10 Hertha-Siege gegenüber), zweitens hat G. gerade den Trainer gefeuert, was bekanntlich für den Gegner sehr gefährlich sein kann und drittens ist Hertha bekannt dafür, angeschlagene Gegner aufzubauen, indem man ihm gnädig die zu vergebenden Punkte überlässt.
Mit einem Sieg in die Länderspielpause zu gehen tut der malträtierten Herthaseele natürlich gut. Obwohl die Hochrechnung von Pal Dardai, der seine Mannschaft jetzt mit zwei Punkten über dem Soll sieht, keine Aufstiegsrechnung gewesen sein kann. Denn wenn man davon ausgeht, dass man seit Einführung der Drei-Punkte-Regel mit 66 Punkten immer aufgestiegen ist (manchmal reichten auch 56 Punkte), müsste man bis Weihnachten 33 Punkte erreichen. Da liegt Hertha jetzt mit fünf Punkten hinter dem Soll. Wenn man von den 24 noch zu vergebenden Punkten aber 21 holt (also sieben Siege bei einer Niederlage), wäre man wieder im Soll. Und wenn Hertha nach Ende der Hinrunde auf Platz 5 oder 4 liegen würde, wie es der gute Pal auf der Mitgliederversammlung am 15.10. ankündigte, reichten auch schon ein oder zwei Siege weniger. Ein Punkt am Wochenende in Nürnberg, dem ersten Bundesligagegner im August 1963, wäre nicht zu verachten und scheint möglich zu sein, wenn da nicht Herthas Probleme mit der Leistungskonstanz wären…
Apropos Mitgliederversammlung.
Die Atmosphäre in der Messehalle war so familiär friedlich wie beim Kindergottesdienst der neuapostolischen Kirche. Kein böses Wort, freundlicher Applaus für jeden Redner, auch Vizepräsident Drescher, der anfangs etwas aufgeregt, insgesamt aber wohltuend sachlich durch die Versammlung führte, wurde freundlich begleitet, wie auch der angenehme Rückblick seiner bisherigen Amtszeit von Präsident Bernstein per Video aus dem Krankenhausbett und die ewig lange Vorstellung der Kandidaten für die freien Vorstandsplätze: Alles wurde in vorweihnachtlicher Harmonie hingenommen, als wenn man dem Konkurrenten aus Köpenick nacheifern wollte. Wenn da nur die 100 Millionen Verlust aus der Spielzeit 2022/23 nicht gewesen wären…Aber auch hier stellte Tom Herrich sogleich Besserung in Form eines „annähernd“ ausgeglichenen Haushalts in der Saison 2023/24 in Aussicht. Die Verlegung des Patienten Hertha von der Intensivstation in ein normales Vierbettzimmer scheint gelungen.
Aber bis man sich wieder ein Einzelzimmer mit Chefarztbehandlung leisten kann (Aufstieg in die 1. Liga) geschweige denn aus dem Krankenhaus entlassen wird (d.h., ein Überschuss erwirtschaftet und Schulden abgebaut werden) kann es noch etwas dauern. Üben wir uns in Geduld…